"MIT DEN AUGEN EINER FRAU" - Nora URBAN und die Geschichte des Dragoner-Regiments 5  im Weltkrieg


 

Auszüge aus ihren Aufzeichnungen

„Wir alten Österreicher“

 

 

Nora BERSA von LEIDENTHAL

(1889 - 1977).

 

 

 

 

 

 

 

 

Vater: Hugo Bersa von Leidenthal.

Mutter: Sophie Bersa von Leidenthal geborene Hüpeden.

Ehegattin von  Otto URBAN  (09-05-1914)

Geschwister: Alexander („Ande“) und Hilde Bersa von Leidenthal.

Kinder: Ernst (1915), Edmée (1916).

 

 

                         „Ich, zum Beispiel, bin in Triest geboren, meine Mutter in Tarnopol in Galizien, deren Mutter in Mako in Ungarn, deren Mutter wiederum, meine Urgroßmutter, in Cremona in der Lombardei. Damals waren sowohl Galizien als auch Ungarn und die Lombardei österreichisch. Beim Durchblättern der Dokumente, alten Briefen, Tagebücher und Zeitungen fallen die Unterschiede der Sprachen, des Standes und der Art zu leben und zu denken auf. Wenn auch noch so verschieden in Herkunft und Lebensführung, waren alle diese Menschen Österreicher. Sie waren vereint durch Tradition und dynastische Treue und eine in Jahrhunderten erworbene Brüderlichkeit und Toleranz".

 

"Ein Urgroßvater meines fast ausschließlich italienisch sprechenden Vaters, Johann Josef von Prechtl, war Gründer und Direktor der Technischen Hochschule in Wien, sein Großvater mütterlicherseits, Carlo Lanza di Casa-Lanza, ein gebürtiger Neapolitaner, hatte in Paris Archäologie studiert, in Dalmatien den Palast des römischen Kaisers Diokletian freigelegt und war dann schließlich k. k. Ministerialrat und Direktor des Antikenmuseums in Wien geworden. Unter den Vorfahren meiner Mutter gab es keine Wissenschaftler. Sie waren Adelige aus Turin und der Lombardei und dienten ihrem Kaiser bei der Kavallerie. In trostlosen Orten wie Tarnopol und Mako führten die Offiziere und ihre Familien das anspruchsvolle und anspruchslose Leben ihres Standes, das glänzende Elend für Kaiser und Vaterland. Mein Vater war Kapitän langer Fahrt. Sein Bruder und mein Bruder dienten bei der k. k. Marine. Die Familie meines Mannes kommt aus Württemberg und Krakau und fünf aufeinanderfolgende Generationen waren österreichische Offiziere.

 

Es täte mir leid, wenn so vieles, was in der Familie noch an die alte Monarchie erinnert, an ihr Entstehen, ihre Macht und ihren Untergang, vieles von dem, was ich als Kind gehört, was ich als Erwachsene erlebt habe, in Vergessenheit geriete. Wenn die Menschen jener Tage ganz verschwänden, als hätten sie nie gelebt. Tote sollen nicht sterben.“

 

Windisch-Feistritz war ein kleiner Ort mit 1.500 Einwohnern, davon 800 Dragoner. Zwei Eskadronen des 5. Dragonerregiments, dessen Kader und Regimentskommando sich in Marburg befanden, waren hier in Garnison. Sporenklirrend, in schwarzen Stiefeln, roten Hosen, hellblauen Röcken mit gelben Aufschlägen, das rote Käppi schief auf dem Kopf, stolzierten die Dragoner durch die Gassen. Das heißt eigentlich über den Platz, denn aus viel mehr bestand das Städtchen nicht...."

 

Otto hatte die Kriegsschule vor sich, weil er sich zum Generalstab gemeldet hatte. Für mich wieder war die Kautionsfrage [für die Heirat] nicht so einfach zu lösen. Man muß nämlich wissen, daß die Gage eines Offiziers so gering war – denn es war eine Ehre Seiner Majestät dienen zu dürfen, und keine Versorgung –, daß sie für ihn selbst nicht ausreichte. Die meisten, besonders in der Kavallerie, waren auf eine Apanage angewiesen. Daher verlangte der Staat, im Falle einer Verehelichung, daß für die jeweilige Frau eine Kaution zu erlegen sei. Diese Kaution betrug 75.000 Kronen und mußte in pupillarsicheren 5%-Staatspapieren angelegt werden, so daß der Staat gewissermaßen in der Lage war, das standesgemäße Leben der Frau zu überwachen. Was nach Papas Krankheit an Vermögen übriggeblieben war, trug, in Lloydaktien angelegt, zwischen 20 und 30 %. Mein Einkommen reduzierte sich somit auf ein Viertel. Von Seiten meines Zukünftigen war nicht viel zu erwarten. Der alte General Urban hatte zwar aus dem Besitz seiner Frau ein Mustergut gemacht, das seine Mastochsen nach Wien ins Hotel Sacher lieferte. Aber er war seit Jahren tot und seine Frau so ahnungslos, das Gut so verschuldet, daß es die Apanage an den Sohn nicht mehr trug. Ich war verlobt. Aber damit begannen meine Sorgen. Denn mit der Kaution allein war es ja nicht getan. Nebenher mußte noch alles beschafft werden, was zu einem Haushalt gehörte, der nicht, wie der Mamas jetzt, auf ein Minimum reduziert war. Er sollte standesgemäß sein. Ich wollte in Görz, Marburg oder Windisch-Feistritz nicht eingeschränkter leben als die anderen. Um mein Budget nicht zu überschreiten, mußte ich mir meine Aussteuer gut überlegen. Als Ottos, meines Bräutigams, Mutter plötzlich gestorben war, wurde das Gut verkauft. Kein roter Heller blieb übrig“.

 

1914 heirateten Otto und ich am 9. Mai. Es war eine sehr unscheinbare Hochzeit.“

 

"Den ersten Schreck erlitt ich bald. Otto kam vorzeitig aus der Kaserne und bat: „Kannst Du mir 100 Kronen leihen?“ „Du kriegst ja heute deine Gage?!“ Er lächelte entwaffnend: „Am Papier hab' ich sie ja schon bekommen. Ich habe 100 Kronen zu refundieren. Schulden!“, sagte er, „Rennfond, Kranzfond, Messefond und vergiß nicht den Schari!“ Und verschwand, die 100 Kronen in der Hand. Ich hatte zwar nicht gleich verstanden. Aber soweit gehörte ich schon zur Kavallerie, daß ich wußte, was ein Schari war – das Chargenpferd! Jeder Kavallerieoffizier hatte, wenn er ausgemustert wurde, Uniform, Sattel, Zaumzeug und ein eigenes Pferd mitzubringen. Der Staat stellte ihm ein zweites zur Verfügung. Meist ein vierjähriges ungarisches Vollblut, das er zuzureiten hatte und das nach vier Jahren, nach einem Entgelt von 900 Kronen, ihm gehörte. Das war das zweite eigene Pferd, der Schari. Er hatte es noch vor unserer Ehe übernommen und noch nicht voll ausbezahlt. Daher ... Übrigens wurden diese Pferde, nachdem sie ins Eigentum der Offiziere übergegangen waren, von deutschen Pferdehändlern sehr gut bezahlt. Gut zugeritten, übernahmen sie deutsche Stabsoffiziere für relativ hohe Summen. Für unsere Offiziere mit ihren niederen Gagen war so ein Verkauf oft ein Retter in der Not“.

 

Im Großen und Ganzen verliefen die Tage alle gleich. Wie immer ritten die Eskadronen, ihre Offiziere voran, auf den Exerzierplatz. Die Trompeter bliesen, die Hufe klapperten, die Pferde wieherten. Nach einer halben Stunde wieder Pferdegetrappel: der Oberstleutnant und seine junge Frau. Sie im Damensattel, eine schöne Erscheinung. Dann kamen die Herren aus der Kaserne. Am Nachmittag war der Dienst mässig. Wir ritten aus, machten Besuche, fuhren spazieren“.

 

"Es war entspannend zu wissen, daß es jetzt, bis auf geringfügige Änderungen, keine besonderen Überraschungen für uns geben würde. Natürlich würden auch wir Kinder haben. Und man wußte genau, Otto würde in zwei Jahren Rittmeister werden und es acht Jahre bleiben, ehe er Major werden würde. Dann würde es so weitergehen, bis zum General wie Vater und Großvater".

 

"Wenn ich mich in der Hoffnung gewiegt hatte, hier einen Menschen mit etwas anregenderen Interessen zu finden, hatte ich mich getäuscht. Die Herren sprachen durchwegs von Pferden, Reiten und Kaserne, allenfalls fielen ein paar Bemerkungen über Vorgesetzte, von Otto mit spöttischem Witz erzählt. Die Damen sprachen von ihren Kindern, ihren Männern, von Verwandtschaft und Gesellschaft. Tiefgründige Gespräche gab es nie. Nur mit dem Oberstleutnant [Thurn]. Er hatte Verbindungen zum Auswärtigen Amt und war voller Interessen. Er sah nicht besonders optimistisch in die Zukunft: 'Seit der Annexionskrise stinkt es in Europa. Und unser guter Conrad hört nicht auf, zum Präventivkrieg zu hetzen. Gut, es ist sein Geschäft! Aber von den Verantwortlichen weiß keiner, was Verantwortung ist.'“

 

"Es war der 28. Juni 1914. Wir waren seit sechs Wochen verheiratet. Der Divisionskommandant war in Bleiburg auf der Jagd. Er hatte uns durch seinen Chauffeur eine Rehkeule geschickt. Sein Jäger hatte zweifellos die abgelegteste ausgesucht und frühzeitig verpackt. Als wir sie aus dem Papier wickelten, stank sie erbärmlich und wimmelte von Würmern. Wir läuteten dem Diener, damit er sie sofort im Garten vergrabe. Dann machten wir uns daran, ein Gedicht auf ein Reh zu entwerfen, das, obwohl erschossen und um seine Beine gebracht, immer noch laufen konnte. Wir stritten uns um die besseren Einfälle, als der Sohn des Bürgermeisters die Tür aufriß und schrie: „Der Thronfolger ist ermordet worden!“ Ehe wir eine Frage stellen konnten, hatte er die Tür wieder zugeschlagen, um mit seiner erschütternden Nachricht als erster von Haus zu Haus zu laufen. Uns war das Herz stehengeblieben! Entsetzt sahen wir uns an und dachten dasselbe: Das ist der Krieg!

 

Unter den sieben Kastanien sammelten sich die Menschen. Fassungslos standen sie herum. Und immer Neue kamen hinzu: der Apotheker und der Bäcker, der Richter, den man sonst nie sah. Alle drängten zu Käthe Stingl, der Postmeisterin, die es ja am besten wissen mußte, denn sie hatte die telephonische Nachricht empfangen.

Alle redeten durcheinander, die Fragen überstürzten sich: „Woher wissen Sie es?“ „War es eine Bombe?“ „Und sie? Die Herzogin?“ „Wo? ... In Sarajevo!“ „Natürlich! Dort waren Manöver. Der Erzherzog ist hingefahren.“ „Sie ist mitgefahren weil sie dort gefeiert wird wie eine Kaiserin und nicht wie bei Hof, wo man sie wie eine Hofdame behandelt.“

Oberleutnant Graf Bissingen, kurz zuvor noch im Reitlehrerinstitut in Wien, war von unseren Herren am besten unterrichtet. Er sagte: „Falsch! Der Thronfolger ist vor Attentaten gewarnt worden. Die Herzogin ist mitgefahren, weil sie Angst um ihn hatte.“

„Feldzeugmeister Potiorek hat doch für Ruhe garantiert?!“ So eine Schlamperei ist nur bei uns möglich. Man weiß doch, daß die Serben den Trialismus, wie er dem Thronfolger vorschwebte, nicht wollten! Sie wollen keine zufriedenen Slawen in Österreich!“

„Haben Sie denn nichts Genaueres erfragt?“, fuhr der Burggraf die arme Postmeisterin an. Käthe Stingl zuckte die Achseln: „Die haben doch gleich abgehängt!“ „Ich telephoniere später mit Wien“, versicherte Bissingen.

Man tauschte Vermutungen aus, aneinandergerückt wie eine Schafherde, in die der Blitz gefahren ist. Wie leichtfertig von diesem Feldzeugmeister Potiorek, der doch gewußt haben mußte, daß Sarajevo ein Pulverfaß war. So nachlässig, daß die „Schwarze Hand“ vor seiner Nase ein Attentat hatte vorbereiten können. Gewiß war auch er gewarnt worden, nicht nur der Erzherzog! Da nichts Näheres zu erfahren war und es dunkel zu werden begann, bröckelte einer nach dem anderen von der Gesellschaft ab. Die Herren kamen zu uns. Alle fanden es unverantwortlich, das Leben des Thronfolgers so sinnlos aufs Spiel gesetzt zu haben. Man machte nicht nur Potiorek zum Sündenbock, sondern auch die Kamarilla. Wie hatte diese Inspektionsreise an einem so kritischen Zeitpunkt bewilligt werden können? Am nächsten Tag stand es schwarz auf weiß in der Zeitung".

 

"Die Stadt glich jetzt einem aufgewühlten Ameisenhaufen. Säbel wurden geschliffen, Pferde ausgewählt, Sättel gereinigt, Zäume geflickt, Packtaschen gefüllt. Den Offizieren wurden ihre verschiedenen Aufgaben zugeteilt. Der morgendliche Ritt auf dem Exerzierplatz unterblieb. Aber alles war voll Begeisterung und Optimismus. Hurra! Wir wurden es den Serben, diesen Meuchelmördern schon zeigen! Drei Monate! Ein kurzer Krieg und Österreichs Ehre würde wiederhergestellt sein …" 

 

Abmarsch der 6. Eskadron aus Windisch-Feistritz (Slovenska Bistrica) zur Eisenbahnverlegung nach Galizien.

 

"7. August: Der Morgen dieses Tages bleibt mir in ewiger Erinnerung. Die ganze Garnison war ausgerückt und hatte sich im Rechteck auf der großen, offenen Reitschule versammelt. Die Mannschaften standen dort, in roten Hosen, hellblauen Röcken mit gelben Aufschlägen und dem Helm mit dem goldenen Löwen auf dem Kopf. Hinter ihnen drängte sich der ganze Ort.

 

Was jetzt geschah, war mehr als ein Abschied. Der Pfarrer hatte auf dem Feldaltar in der Mitte des Platzes die Feldmesse gelesen. Rittmeister Graf Auersperg war vor den Tisch getreten, auf dem ausgebreitet die Standarte des Regimentes lag und las deutsch und slowenisch die Eidesformel vor: „Wir schwören bei Gott dem Allmächtigen einen heiligen Eid, Kaiser und Vaterland, zu Wasser, zu Land und in der Luft, treu zu dienen bis in den Tod!

 

Als sie ausgesprochen hatten, war es so still, daß man das Fallen einer Stecknadel hätte hören können. Und dann erklang getragen, rein und feierlich das „Gebet vor der Schlacht“. Die Trompeter bliesen es und die Menschen weinten. Zu diesen Tönen, denen es gegeben ist an die Saiten des Herzens zu greifen und sie in Andacht erzittern zu lassen.

 

Am Nachmittag ritten die Viererreihen der 6. Eskadron, begleitet und umringt von den Menschen, die alle Abschied nehmen wollten, durch die Stadt. Wie immer und doch zum letzten Mal in farbigen Uniformen auf ihren tänzelnden Pferden. Auf dem Sattel, hinter sich, den gerollten Mantel, neben sich die gefüllte Packtasche, den Karabiner quer über den Rücken, den Säbel an der Seite, inmitten all der Menschen, die winkten und schrien. Mädchen, die sich an die Bügel klammerten, die den Reitern Liebesgaben in die Hände drückten, sie noch einmal küssen wollten. Und alle weinten und jubelten in der hysterischen Begeisterung, die sich der Menge bemächtigt, wenn sie ein ihnen allen gemeinsames Gefühl ergreift und alle persönlichen Gedanken und Empfindungen auslöscht. Als die Eskadron in die Pragerhoferallee einbog und der Rittmeister „Trab“ kommandierte, liefen sie noch eine Weile hinterher. In der Ferne verklang das Getrappel der Pferde".

 

Endlich ein Brief meines Mannes. Das Eck mit der Feldpostnummer am Couvert war wie ein Symbol der Sorge und Angst. „Von Stryj (Galizien, heute Ukraine) aus auf Patrouille gewesen. Am Haus Souvent vorbeigeritten. Tante Blanche vor drei Wochen gestorben. Die Dienerschaft hat das Haus vollkommen ausgeplündert. Die Ahnenbilder haben die Russen. Von der Friedhofsmauer gedeckt, bemerkte ich die Russen auf dem Gegenhang im Kartoffelacker eingegraben. Auf die Meldung hin erschien ein Generalstäbler und sagte stolz: ‚Es gibt keine Russen in Galizien!‘, schaute sich mit dem Trieder um und wurde sofort angeschossen. Das 17. Infanterie-Regiment marschierte los, in farbigen Uniformen, in geschlossenem Reihen, aufrecht wie auf dem Exerzierplatz. Die Russen erdfarben, kaum sichtbar, mähten sie mit ihren Maschinengewehren nieder. Die Verluste sind furchtbar. An die 40.000 Mann!“

 

Höre“, sagte Mizzi, die Tochter des Burgherren Graf Attems. „Ich fahre nach Stanislau, um nachzusehen, ob die Russen meine Wohnung total geplündert haben. Willst Du mitkommen? „Oh, gerne! Aber wie?“ „Ich bekomme ein Hoftelegramm. Ich erbitte auch eines für Dich!“

Ich hatte keine Ahnung: „Was ist das?“ „Meine Schwägerin, die Hofdame bei der Erzherzogin Zita, verschafft mir ein Telegramm, das uns die Berechtigung gibt, mit allen Militärzügen mitzufahren.“

 

Wir fuhren am 21. Juli zuerst nach Wien und am nächsten Morgen in einem zum Bersten vollen Zug nach Budapest. Die Damen saßen, statt zu dritt, zu fünft auf den Polstersitzen. Die Herren standen gedrängt nebeneinander, bei jedem Ruck des Zuges in Gefahr, den Damen auf den Schoß zu fallen.

 

Das Umsteigen aus dem Budapester Zug in den nach Delatyn war ein lebensgefährliches Unterfangen. Die Herren stiegen durch die Fenster ein und aus. Das Gepäck wurde ihnen nachgeworfen. Am Gang durchzukommen war ein Ding der Unmöglichkeit. In Satora Ujhely war es dann aus für das Zivil und der Zug leerte sich. Aber nur wenig hat mich während dieses Krieges so sehr beeindruckt wie der Bahnhof von Satora Ujhely.

 

Da lagen teilnahmslos, ihre ganze Habe in einem Bündel unter dem Kopf, Männer, Frauen und Kinder, alte Leute und Verwundete. Sie lagen da, als hätten sie sich und jede Hoffnung aufgegeben, als wäre alles Leben in ihnen erloschen. Kein Kind schrie. Kein Verwundeter stöhnte. Soldaten und Offiziere stiegen achtlos über sie hinweg. Ohne hinzublicken, scheinbar ohne jedes Mitgefühl traten sie zwischen diese halben Leichen, die dalagen wie fortgeworfene Pakete. 

 

Wir hatten jetzt, dank des Hoftelegramms, ein Coupé für uns, konnten uns endlich ausstrecken und schlafen. Am Nachmittag des 23. Juli kamen wir in Stanislau an.

 

So ungefähr hatte ich mir, nach Mamas Erzählungen, das kleine Landstädtchen vorgestellt: kleine Läden, in denen alles durcheinander lag, bestenfalls stockhohe Häuser, auf der Straße viele Juden in schwarzem Kaftan, Schläfenlocken und großem, schwarzem Samthut. Zwischen ihnen, in Feldgrau, Offiziere aller Waffengattungen. Mizzis Wohnung war unangetastet. Selbst die Marmeladegläser standen noch in Reih und Glied. Mein erster Weg war auf die Feldpost, um zu erkunden, wo die Fünferdragoner im Augenblick wären. Dort sagte man mir, das könne niemand wissen, denn alles sei in Bewegung. Das war eine trostlose Nachricht. Wo sollte ich Otto finden? Ratlos stand ich vor der großen Karte Galiziens, die an der Wand hing. Mein Blick blieb am Ortsnamen Nizniow hängen ... Wo hatte ich den Namen schon einmal gehört? Hatte mein Mann ihn jemals genannt? Er kam mir so bekannt vor. Ich sagte dem Beamten: „Bitte, telephonieren Sie nach Nizniow!“ „Das hat gar keinen Sinn“, sagte er. „Es ist alles in Bewegung!“ „Bitte!“, sagte ich. „Nein. Es ist nur schade ums Geld!“ Jetzt beschwor ich ihn: „Ich bin doch so weit gereist!“ Endlich ließ er sich erweichen und rief Nizniow an. Er machte ein verblüfftes Gesicht, hängte den Hörer wieder ein und sagte: „Gerade reiten die Fünferdragoner ein!“ Ich bat ihn, den Oberleutnant Baron Urban verständigen zu lassen, daß seine Frau in Stanislau auf ihn warte. Mein Mann schickte mir noch am selben Abend einen Wachtmeister und ließ mir sagen, er komme am nächsten Morgen.

 

Dann erschien Otto, nicht ohne mir heftig wegen meines Leichtsinns den Kopf zu waschen. Was mir eingefallen wäre, einfach an die Front zu fahren! Es wäre der reinste Zufall, daß wir uns getroffen hätten. Aber wir genossen das Zusammensein. Dann kam der Moment des Abschiedes. Es wurde mir noch strengstens aufgetragen, am nächsten Tag heimzufahren. .. Adieu! Adieu! Ich saß am Abend allein und traurig im Restaurant, als ein Dragonerleutnant in Marschadjustierung und schwer bepackt eintrat. Er blickte sich um, erkannte mich und kam auf mich zu. Staunend fragte er: „Was machen Sie denn da?“ Mit Betonung auf dem „Sie“. Ich erzählte ihm, was ich da mache und daß mein Mann auf der morgigen Heimfahrt bestehe. Er lachte: „So dumm können Sie gar nicht sein! Wozu dann die weite Reise? Ich fahre morgen im Fiaker an die Front. Ich nehme Sie mit. Wenn er Sie dann auch nicht will, können Sie ja mit dem Fiaker umkehren. Zur Heimfahrt kommen Sie immer noch zurecht.“

 

Im Fiaker an die Front?“ Ich begriff es nicht. „Natürlich. Sie werden schon sehen.“ Wimmersperg war jung und fröhlich: „Der wird staunen!“ Und dann war es wirklich ein Fiaker, mit dem wir fuhren. Ein junger Jude im Kaftan auf dem Bock. Er stank verheerend nach Knoblauch. Aber was machte das, wenn man so selig durch eine Gegend fuhr, die, gar nicht vom Krieg verwüstet, lieblich war im Gold der reifenden Weizenfelder mit den dunklen Flecken der bewaldeten Hügel. Wir fuhren drei Stunden. Von Krieg keine Spur. Als wir zu einem dichten Gebüsch kamen, sprangen dahinter einige Herren auf. Sie trauten ihren Augen nicht. Einer schrie: „Eine Dame!“ Und die anderen riefen: „Wir lassen sie nicht mehr fort!“ Nur Otto war sprachlos, aber immerhin glücklich". 

 

"Der Kommandant, Robert Graf Salm, kratzte sich hinter dem Ohr: „Und wohin mit ihr?“ „Ins Kloster“, rief einer der Herren. Auf einem der Hänge stand wirklich weiß und leuchtend ein Kloster. Von nach Hause fahren keine Rede mehr! Der Kutscher kehrte ohne mich um. Die Offiziere waren gerade beim Speisen gewesen. Zwei lange Bretter auf zwei Fässern bildeten den Tisch; die Sitzgelegenheiten lagen entsprechend tiefer. Ich bekam auch zu essen, nur wunderte ich mich über die merkwürdigen zischenden Geräusche über unseren Köpfen. „Das sind Feindeskugeln“, wurde ich belehrt. „Wir sitzen hier im toten Winkel. Der Hügel deckt uns.“ Das Kloster der Unbefleckten Empfängnis lag unangetastet auf dem gegenüberliegenden Hang. Dort weideten Pferde. Die Russen, von der anderen Seite des Dniester, schossen mit Granaten auf den Hügel. Eine Erdfontäne spritzte auf. Die Pferde sprangen nur zur Seite und grasten dann seelenruhig weiter.

 

Der Weg in das Kloster war eingesehen und auch dort schlugen hin und wieder Granaten ein. Es wurde mir erklärt, daß ein gegenseitiges Übereinkommen bestünde, nur bei Angriffen wild aufeinander loszuknallen. In den Stellungen fange man um acht Uhr früh an und höre um fünf Uhr nachmittags auf. Wir würden daher erst gegen Abend in das Kloster gehen und die Oberin, eine polnische Gräfin, die Oberstleutnant Graf Salm kannte, um Unterkunft für mich zu bitten. Sie war sofort bereit, mich aufzunehmen, und wies mir in der Klausur die Zelle Nr. 1 zu.

 

Ich habe nie in meinem Leben so gut und unbeschwert geschlafen wie in dieser nackten Zelle auf den drei Brettern mit den glatt darauf gelegten Strohhalmen. Vor acht Uhr früh machte ich mich auf den Weg zum Unterstand. Im toten Winkel, der uns vor den feindlichen Geschoßen schützte, suchten wir nach Schwämmen für unser Mittagessen. Nach fünf Uhr Nachmittag gingen Otto und ich in Begleitung einiger Offiziere auf den Stützpunkt. Er lag erhöht und war vollkommen gesichert. Tagsüber schossen die Russen wacker dorthin. Nach fünf Uhr konnte man sich getrost auf die Brüstung setzen und mit dem Trieder in die feindlichen Stellungen spähen. „Auf eine weiße Bluse schießen sie ohnehin nicht!“ Also setzte ich mich auf die Brüstung und sah über den Fluß hinüber, der hier ziemlich breit und träge zwischen den Stellungen dahinfloß. Auf der anderen Seite sah man durch den Trieder die Russen in ihren khakifarbenen Uniformen zwischen den Maisstauden hin- und hergehen. Irgendwo verschwanden sie und tauchten dann wieder auf. Arme Teufel, die wie unsere Soldaten ihre Haut zu Markte trugen. An einem Nachmittag, als sich mir die Gelegenheit geboten hatte nach Stanislau zu fahren, wurde der Stützpunkt eine halbe Stunde nach fünf Uhr in Trümmer geschossen. Niemand hatte Schaden erlitten. Aber daß ich ausgerechnet an diesem Nachmittag nicht dort eben zu Besuch erschienen war, betrachteten die Dragoner als keinen reinen Zufall, sondern als Zeichen der Vorsehung. Sie sind damals alle noch fromm gewesen. Als zu Beginn des Sommers die Cholera zwischen den Leuten Todesopfer forderte, ließ der Oberstleutnant alle Dragoner mit erhobenen Fingern den Eid leisten: „Weder rohes Obst noch ungekochtes Gemüse zu essen!“ Sie hielten ihren Eid und es gab keine Todesfälle mehr. Ich habe die Rache für die Zertrümmerung des Stutzpunktes, einen Feuerüberfall auf die Russen, total verschlafen, obwohl acht Geschütze unter meinem Fenster gestanden sein sollen. Am 9. August hatten die Eskadronen sich zum Abmarsch bereit zu halten. Die Offensive sollte bis in den Raum von Brest-Litowsk vorgetragen werden. Am 12. war es soweit. Ich nahm gerührt Abschied von allen. Ich hatte erlebt, daß man fallen mußte wie Graf Thurn, es aber auch so friedlich zugehen konnte wie in Nizniow".

 


"Zwar behauptete der Arzt, ich würde zweifellos mit meinem zweiten Kind im Waggon niederkommen. Aber ich ließ keine Einwände gelten, packte in Windisch-Feistritz ein und in der Marburger Wohnung wieder aus, hing Vorhänge und Bilder auf und hatte noch zusätzliche Arbeit. Denn unser Vorgänger hatte sich offenbar in der Wohnung eine Wanzenzucht angelegt. Aus jedem Nagelloch hingen sie in Trauben. Der kluge Diener Franz hatte Erfahrung. Er holte eine Lötlampe und fuhr mit der Stichflamme in die Löcher. Es zischte und weg waren sie. Vorsichtshalber verwendeten wir das probate Mittel noch an allen Ritzen und Spalten. So lange wir in der Wohnung waren, gab es keine Wanzen mehr.

 

Mein kleines Mädchen erblickte ohne große Schwierigkeiten, aber mit lautstarkem Geschrei das Licht der Welt. Ein Esel, der in der etwas abschüssigen Domgasse, in der wir wohnten, einen Milchwagen zog, beteiligte sich sogar angeregt an dem Gebrüll. Darob scheuten zwei Pferde, die noch einige unserer Kisten angeschleppt hatten, und warfen den Milchwagen um. In dieses Durcheinander geriet der Vater, der zur Geburt seines Kindes aus der Kaserne herbeigeeilt war. Die Damen kamen, um mir zur Geburt Glück zu wünschen. Sie stiegen dann gleich einen Stock höher. Denn über uns, in zwei unschön möblierten Zimmern, wohnte unser Major Graf Waldburg-Zeil mit seiner jungen Frau, der Erzherzogin Elisabeth, Tochter des Erzherzogs Franz Salvator und der Erzherzogin Valerie, also eine Enkelin unseres alten Kaisers. Der Major hatte im Augenblick nichts Besseres gefunden als diese zwei möblierten Zimmer und hoffte, wohl nicht ewig hier bleiben zu müssen. Da wir alle ja nicht täglich mit einer Erzherzogin zu tun hatten, wurden gewisse Etiquettefragen bei mir ventiliert, bevor die Damen einen Stock höher stiegen. Machte man ihr einen Hofknicks und sprach man sie mit kaiserlichen Hoheit an? Ich lag im Wochenbett und war aller zeremoniellen Fragen enthoben. Da riß Franz die Tür auf und meldete stotternd: „Ihre kaiserliche Hoheit!“ Ich wollte gerade sagen, daß ich im Bett liege und leider nicht aufstehen könne, da stand sie schon im Zimmer. „Kaiserliche Hoheit, ich habe nicht einmal ein Fauteuil im Zimmer!“ „Das macht doch nichts! Ich setze mich auf Ihr Bett!“

 

Und da saß sie. Sehr hübsch, sehr jung. Sie ließ mich gar nicht dazu kommen, verlegen zu sein. Sie erzählte mir von ihren drei Kindern. Daß sie sie hier leider nicht mitnehmen konnte. Daß die Wohnung ... sie wisse auch nicht, was es sei ... sie schlafe so schlecht, denn nachts habe sie immer kleine, braune Käfer im Bett! „Kaiserliche Hoheit“, rief ich, „das sind Wanzen! Das ganze Haus ist verwanzt!“ „Wanzen?“, sagte sie entsetzt. Sie verabschiedete sich und nahm gleich Franz mit der Lötlampe mit".

 

Ende Jänner mußte Otto wieder an die russische Front. Aber schon Anfang März kam es zur russischen Revolution. Alles atmete auf. Jetzt, da es mit Rußland zu Ende war, würden wir für die anderen Fronten freie Hand erhalten. In der Tat herrschte in Rußland fast völlige Ruhe zwischen den Fronten. Es gab keine Kampfbewegung mehr und alles war im Schützengraben und Unterständen gelandet. Pferde waren überflüssig geworden. Eines Tages erschien ein Dragoner und brachte drei Pferde. Ich sollte trachten, sie zu verkaufen. Hypolit war nicht dabei. Er war Otto unter dem Leib erschossen worden. Ich wandte mich an einen der Herren und hatte bald einen ziemlich hohen Betrag in der Hand. Der Staat hatte sie gekauft. Hier muß ich einfügen, daß die magere Börse meiner ersten Ehemonate durch den Ausbruch des Krieges eine bedeutende Erweiterung erfahren hatte. Nicht nur war die Gage vom ersten Kriegstag an verdoppelt, auch die Abzüge für die diversen Fonds gab es nicht mehr. Überdies bezog ja Otto jetzt die Rittmeistergage. Wir lebten also bis auf gewisse Mängel erstaunlich sorglos. Wem es, so wie uns, gelang, sich gewisse Dinge wie Kaffee, Tee, Schokolade, Butter, Seife, Kerzen auf dem Schleichweg zu beschaffen – man lernte es auch, darauf zu verzichten –, konnte, bis auf die Feststellung, daß der Krieg doch keine Sicherheit bot, eigentlich glücklich sein. Die Kinder gediehen, das Schwein wuchs, die Hühner legten Eier. Und vor allem: Otto war nicht an der italienischen, er war an der russischen Front, an der die Stellungen sich festgefahren hatten und es zwischen Freund und Feind einen fast kameradschaftlichen Verkehr gab. An die Zukunft durfte man allerdings nicht denken.

 

Der Krieg ging weiter: am Isonzo, am Piave, in den sieben Gemeinden, in Rumänien. Aus der Ukraine hatte mir Otto alle vierzehn Tage einen Dragoner geschickt. Eine Kiste mit Kerzen, Eiern, Fett, Öl, Küchenseife, sogar eine lebende Gans und ein Zwerghuhn kamen an. In Rußland war es dann unerwartet zu einer Offensive gekommen. Vielleicht von Kerenski befohlen, um den Ausbruch der bolschewistischen Revolution aufzuhalten, die, von Lenin und Trotzki geschürt, jetzt überall ausbrach und zur Bildung der Sowjetregierung führte. Monatelang hatte es zwischen den Fronten eine Art Separatfrieden gegeben. Die russischen Offiziere waren am Abend aus ihren Gräben zu den Österreichern gekommen, hatten sich voll und toll getrunken und waren als Alkoholleichen von unseren Soldaten in Tragbaren wieder in ihre Gräben gebracht worden. Auch tagsüber hatte es friedliche Zusammenkünfte zwischen den Linien gegeben. Otto und Oberleutnant von Arbesser, der etwas Russisch sprach, unterhielten sich täglich mit den Russen zwischen den Fronten. Eines Tages, als Arbesser wieder zwischen den Linien stand, kamen drei Offiziere der Gegenseite auf ihn zu und nahmen ihn mit. Er war gefangen! Es gab viele auf diese Weise gefangene Offiziere an diesem Tag. Es war der Beginn der Kerenski-Offensive.


1918. Jetzt war der Osten kriegerisch ausgeschaltet und aus der zu Rußland gehörenden Ukraine floß eine reiche Quelle an so bitter fehlenden Hilfsmitteln: Getreide, Fleisch, Pferde, Rohstoffe, die uns über alle Mängel hätten hinweghelfen können, hätte es nicht an Transportmitteln gefehlt.

 

Wie ich schon sagte, konnte ich damit rechnen, daß der stämmige Dragoner Heinz ein bis zweimal im Monat mit einer Kiste voll der besten Dinge bei mir erscheinen würde. Ja, er brachte sogar Pferde mit, die von den Offizieren gemeinsam gekauft worden waren und die in der Kaserne untergestellt wurden. Denn auch Pferde waren eine Mangelware geworden. Otto hatte mir, obwohl er an der Front war, Diener und Pferdewärter zurückgelassen. In den Stellungen des Regiments an der russischen Front war kein Bedarf mehr an Mannschaft. Im Gegenteil, man war fast froh, sie mit den Russen nicht in allzu großen Kontakt kommen zu lassen und sie vor den sowjetischen Ideen der Soldatenräte und anderen derartigen ansteckenden Seuchen zu bewahren. Daher war bei uns, gottlob, noch alles beim Alten. Der aus einem Offiziershaushalt nicht wegzudenkenden Offiziersdiener noch immer vorhanden.

 

Der Oberst [Johann Sponer von Ostravy] und seine Frau – die eigentliche Regimentskommandeuse – hatten sogar zwei dieser unentbehrlichen Hausgeister. Der eine kaufte ein, der andere putzte und machte die Betten. Über den Ehebetten dieses Paares stand merkwürdigerweise die Urne mit der Asche des Großvaters der Oberstin. Der Diener hatte während des Bettenmachens die Urne umgestoßen und die Asche ins Bett geleert. Die Oberstin erwischte ihn dabei, wie er den toten Großvater mit dem silbernen Suppenschöpfer wieder in die Urne beförderte.

 

Der Exerzierplatz war zu unserer großen Freude zu Gemüsebeeten umgeackert worden, die den Offiziersfamilien zur Verfügung standen. Bei uns war, von allen betrauert, das Schwein eingegangen. Franz tröstete sich über den schweren Verlust und arbeitete umso emsiger in den Exerzierplatzbeeten. So gut, daß ich die einzige Offiziersfrau war, bei der Kohlrabi gediehen. Die Oberstin ging inspizierend vorbei, sah die Kohlrabi und nahm sie einfach mit. Schließlich war sie die Oberstin und hatte keine!

 

Wie man sieht, lebten wir nicht schlecht. Immer noch mit Wagen und Pferd. Immer noch mit Eiern, Butter, sogar zuweilen etwas Fleisch, das man sich von den Bauern aus der Umgebung holen konnte. Das schwarze Brot war mit etwas Baumrinde durchsetzt, der Fleischersatz bestand aus Sojabohnen, der Zucker war feucht und braun, der Kaffee Zichorie.

 

Aber das war es nicht, was uns Sorge bereitete. Es waren die Gerüchte. Gerüchte über Separationswünsche der Polen, Ungarn, Kroaten. Über die Friedensfühler des Kaisers. Trotz des großen Sieges im vorigen Herbst über die Italiener. Trotz des Friedens mit Rußland. Ein Friede ohne Annexionen und ohne Kontributionen. Was die Deutschen nicht hinderte, die Ukraine und Polen einfach einstecken zu wollen. Ein Friede also, der eigentlich kein Friede war und die Mittelmächte zwang, die Front, auch der bolschewikischen Ansteckung wegen, doch noch zu halten. Die Kriegsgefangenen, die Heimkehrer, die jetzt in Scharen heimkamen, eine bolschewikische Infektionsgefahr. Serbien mußte besetzt bleiben.

 

Nicht nur der Kaiser, ganz Österreich erhoffte die Rettung durch die Offensive, die im Mai gegen Italien geplant war. Italien, der eigentliche Feind Österreichs, war im Herbst in Flitsch so vernichtend geschlagen worden, daß an einem Sieg Österreichs gar nicht gezweifelt werden konnte. Wäre Italien erledigt, könnte Osterreich Frieden schließen! Otto war am 10. Mai als Regimentsadjutant nach Marburg kommandiert worden. Er war optimistisch. Aber das war er immer. Hörte man ihn, so war es ganz ausgeschlossen, daß wir nicht wieder siegten. Die italienischen Offiziere waren gut. Aber wenn sie aus ihren Gräben stürmten und „Avanti!“ kommandierten, blieben die Soldaten in ihren Stellungen und riefen ihnen begeistert auch noch zu: „Che bella voce!

 

Am 15. Juni eröffneten unsere Truppen, in der Überzeugung haushoch zu siegen, die Offensive. Im karstigen Felsen des Monte Grappa konnten weder Artillerie noch Train der vorstoßenden Truppen nachkommen. Das Gas war ausgeraucht, die Munition der Kanonen entweder nicht vorhanden oder sie paßte nicht in die Rohre. Zum ersten Mal waren die italienischen Armeen nicht geschlagen worden. Allerdings auch unsere Truppen, trotz größter Verluste, nicht besiegt. Die Italiener beklagten 8.000 Tote, wir 11.600. Daß wir 17.000 Gefangene, die Italiener 25.000 machten, spricht Bände.

 

Der Geist war dennoch so gut, daß sich zum Beispiel die Truppen am Montello weigerten, die blutig errungenen Stellungen aufzugeben. General Goinginger weinte, als er dem Befehl zum Rückzug gehorchen mußte. Die Schlacht war nicht verloren. Nur, sie war nicht der so sehnlichst erwartete Sieg. Wo war der Politiker, der es verstanden hätte, aus dieser Not eine Tugend zu machen? Noch standen wir Gewehr bei Fuß. England und Frankreich konnten nicht die Absicht haben, Österreich-Ungarn zu zerstückeln. Aber da war diese gräßliche Affäre mit den Sixtusbriefen. Da waren die Deutschnationalen, die nach einem Anschluß an Deutschland schrien, da waren die Ungarn, die ihre Selbständigkeit wollten, die Tschechen, für die Masaryk und Beneš eine Exilregierung gegründet hatten, und die freiheitslüsternen Kroaten. Alle riefen nach Befreiung vom österreichischen Joch und fürchteten sich doch alle vor der Trennung, die sie sich selbst überließ!

 

Depression hatte alle ergriffen. Nicht nur alle Verantwortlichen. Das ganze Volk war bedrückt. Der Kaiser schien allen Mut und alle Zuversicht verloren zu haben. Ein müder Schwimmer, dem das Wasser immer höher an den Hals stieg. Wir, das Volk, lebten immer noch im einfältigen Glauben, daß jene, die uns regierten, besser unterrichtet als wir, die nur Zensuriertes zu Ohren bekamen, auch besser wissen mußten, was zu geschehen habe. Jeder hatte überdies noch seine eigenen Sorgen. Alles ging aus. Kleider und Schuhe waren fast nicht mehr zu erhalten. Die Nahrungsmittelbeschaffung, selbst für uns, die es relativ gut hatten, wurde immer schwieriger.

 

Otto, als Adjutant, hatte alle diese als „Geheim“ einlaufenden Telegramme der Militär-Behörden zu übernehmen. Danach ergab sich ein erschütterndes Bild der Zustände, die sich in immer zunehmendem Maß vollzogen. Mit den Mittelmächten ging es lawinenartig bergab. Es gab Streiks und Transportschwierigkeiten. Die Armee hatte statt der täglichen 167 Waggons nur mehr deren 120 zur Verfügung. Die Tschechen forderten in der Dreikönigsproklamation ihre Autonomie. Es forderten sie die Kroaten und die Serben. In der Bucht von Cattaro kam es zu Matrosenmeutereien. Gleichzeitig mußte die mit Häcksel vermischte Schwarzbrotration auf 1 Kilo wöchentlich reduziert werden. Das ergab 150 Gramm am Tag und war das Hauptnahrungsmittel.

 

Während der Piaveschlacht im Juli waren 40.000 Arbeiter in Wien wegen weiterer Verkürzung der Brotration in Aufstand getreten. An der Front am Piave waren die Rationen der kämpfenden Truppen auf 5 Deka Fleisch pro Tag gesunken. Daß die Armeen Conrad und Boroević trotz der elenden Verpflegung, des mangelnden Nachschubes, des wahrhaft jämmerlichen körperlichen Zustands der Soldaten, dennoch bereit gewesen waren weiterzukämpfen, hätte niemand für möglich gehalten. Dieses Heldentum blieb im Getöse des Zusammenbruches der Monarchie und der ethischen und moralischen Werte unbesungen.

 

Am 13. Oktober wurde bekannt, daß in Österreich die spanische Grippe grassierte. Die Folge war, daß 30 % des Bahnpersonals entfielen. Man war überzeugt, daß der Grippevirus von den Amerikanern als Kampfmittel importiert worden war, um die Bevölkerung widerstandsunfähig zu machen.

 

Wir alten Österreicher wußten, wenn wir gefragt wurden, zu welcher Nation wir gehörten, es in den meisten Fällen nicht, weil wir eben Österreicher waren. Wir, der Schmelztiegel Europas, sollten jetzt, durch einen unbedachten Erlaß, auseinandergerissen werden! Alles, was in sieben Jahrhunderten entstanden war – durch einen Federstrich zerstört! Minderheiten, die im Bewußtsein einer Großmacht anzugehören, ihr Eigenleben gepflegt hatten, waren plötzlich einem unbekannten Schicksal ausgeliefert. Es war nicht zu fassen!

 

Die Reaktion der sich neu bildenden Nationalstaaten war im ersten Augenblick von geringer Wirkung. Aber verheerend und niederschmetternd war sie auf das im Feld stehende Heer und auf die Bevölkerung. Der Armee- und Flottenbefehl des Kaisers gab der Hoffnung Ausdruck, „daß überall der Geist der Treue, der Eintracht unverrückbar bestehenbleibet“. Der Kader im Hinterland erhielt die Mahnung an ihre Offiziere, jetzt zu beweisen, was an Ergebenheit und Vaterlandsliebe in ihnen stecke! ... Und das nach fast fünf Jahren Krieg, in dem jeder einzelne sich aufgeopfert, Glück und Leben zu Markte getragen hatte! Die Offiziere waren empört.

 

Was sich im Hinterland abspielte, sprach sich allmählich auch an der Front herum. In der Etappe mehrten sich Desertionen und Meutereien. Ersatzkörper, Spitäler, Heeresbetriebe lösten sich auf und die Leute gingen eigenmächtig nach Hause. Südlich der Linie Laibach-Arad fielen alle Verbindungen aus, auf die sich die Befehlsgewalt stützte. Von einer Massenpsychose ergriffen, drängten rückwärtige Formationen alle in die Heimat. Bahnhöfe wurden gestürmt. Wie ein Strom ergoß sich die führerlose Flut über Wege und Brücken, bemächtigte sich aller Fuhrwerke und Autos, aller Trains und warf Waffen und Ausrüstung fort, um schneller weiterzukommen. Und doch kämpften an der vorderen Front die tapferen Truppen weiter und hielten, alle Angriffe abwehrend, die Stellungen.

 

Dann erschien, das „Abendblatt der Marburger Zeitung“ unter dem Arm geklemmt, Franz und brachte den Kaffee. Otto nahm ihm die Zeitung ab, warf einen Blick hinein und wurde blaß. „Was ist denn?“, fragte der Oberst. „Da steht, jeder Offizier und jeder Mann kann sich seinem Nationalrat zur Verfügung stellen...“ „Das ist nicht möglich!“, rief einer der Herren. Der Oberst schüttelte den Kopf: „Das, mein Lieber, ist eine Zeitungsente. Uns beim Kader ist nichts davon bekannt.“

Otto las weiter: „Seine Majestät hat mit allerhöchstem Erlaß die Marine an die Jugoslawen abgetreten ...“ „Abgetreten?“, rief ein Leutnant außer sich. „Das kann nicht wahr sein!“

Oberleutnant Lončarić, ein Kroate mit der Goldenen Tapferkeitsmedaille, ein wegen seiner Verwegenheit bekannter Offizier, sagte verächtlich: „Der Fisch stinkt vom Kopf.“ Der Oberst fuhr auf: „Überleg' Dir gefälligst, was Du sagst!“ „Pardon!“, entschuldigte sich der Kroate. „Und Nationalrat! Es gibt hier noch gar keinen Nationalrat!“ Wieder der Kroate: „Weil Ihr Deutschen mit allem zu spät kommt!“ „Verzeih“, unterbrach ihn einer, „bist Du vielleicht schon bei einem Nationalrat? Oder teilst auch Du die Monarchie schon in Nationen auf?“

Der Oberst faßte sich nur schwer: „Wir sind doch alle noch k. u. k. Offiziere!“ Er sah plötzlich sehr müde aus: „Ihr tut so, als wäre mit dieser Nachricht hier alles zu Ende!“ „Ist es das nicht?“, fragte Lončarić. „Und Seine Majestät?“ Der Kroate, der sich entschieden hatte, sagte: „Es gibt keine Monarchie mehr und keinen Kaiser!“ „Wie kannst Du als österreichischer Offizier so etwas behaupten?“, ein Oberleutnant, den sie bel Arthüre nannten, sprang entrüstet auf, „noch ist alles beim Alten!“ Arbesser, der es wissen mußte, er war ja lange genug bei den Bolschewiken gefangen gewesen, sagte mit schmerzlichem Spott: „Aber nicht mehr lange!“

„Gräßlich!“, sagte der Oberst, den Kopf in den Händen. „Unsere herrliche Armee! Diese Ungarn! Jetzt, wo es zu Ende geht, siegen die Katzelmacher und alles läuft auseinander.“ „Und was geschieht mit uns?“, fragte einer.

„Wir haben es ja in Rußland erlebt“, sagte der Kroate: „Der Kaiser wird abgesetzt, der Großgrundbesitz aufgelöst, der Adel abgeschafft. Es gibt keine k. u. k. Armee mehr!“ „Du bist doch verrückt!“, schrie bel Arthüre: „Wir stehen doch überall im Feindesland. Noch kein Gegner hat Österreich mit einem Fuß betreten.“

Lončarić schlug mit der Faust auf die Goldene auf seiner Brust: „Ich war ein tapferer österreichischer Offizier, das habe ich bewiesen. Aber jetzt gibt es kein Österreich mehr, keine Armee mehr, keine Kavallerie. Aus!“

Der arme Arthüre brach fast in Tränen aus: „Das ist doch unmöglich, daß diese schöne Mischung von Kavallerie und Aristokratie ein Ende haben soll!“ Der Oberst klopfte ihm mit verzerrtem Lächeln auf die Schulter: „Mein Lieber! Wenn es soweit ist, wird noch alles mögliche andere ein Ende nehmen!“ „So? Was denn?“ „Tradition und Ehrfurcht, Ethik und Moral …“ „Und der Eid?“, unterbrach Arthüre, „was ist mit unserem Eid?“ „Und die Marine?“ Otto sagte: „Übertreibt doch nicht so! Wir wissen noch gar nichts Genaues.“

„Ihr wißt nichts!“, sagte Lončarić. Jetzt sagte ich: „Ich will gewiß niemanden hinauswerfen. Aber wenn ich jetzt einer der Herren wäre, ginge ich in die Kaserne.“ „Warum?“ „Weil die Leute doch auch die Zeitung lesen. Wenn das bekannt wird, lauft euch bis morgen alles davon.“

„Sie haben recht“, sagte der Kroate, „komm, Otto, gehen wir.“ „Die Leute schlafen doch schon längst!“ „Das glaubst auch nur Du!“ „Heute hat es keinen Sinn mehr“, sagte der Oberst, „morgen wissen wir mehr.“

Lončarić stand auf: „Ich gehe!“, und er verabschiedete sich rasch.

„Ich fürchte, der besucht schon seit Wochen den Narodni dom. Ich habe was läuten gehört. Ein österreichischer Offizier!“ Der Oberst schüttelte den Kopf: „Gemma halt nach Haus!“ „Vielleicht sind wir heute zum letzten Mal hier so gemütlich beisammen gesessen!“ „Nach Hause?“ Der Oberst zuckte hilflos die Achseln: „Morgen ist ein Befehl da! Dann wissen wir, woran wir sind!“ „Ich fürchte“, sagte ich, „das wissen wir schon jetzt!“ Sie gingen alle. Und sie gingen zu Bett.

Glaubst Du“, fragte ich Otto, „daß morgen ein Befehl da sein wird?“ „Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Am liebsten möchte ich gar nichts mehr wissen!“ Dann gingen auch wir zu Bett.

 

1. November. Am nächsten Morgen erwachte ich von einem Kanonenschuß. Es folgte Gewehrgeknatter. Dann eine Handgranate. Ich hörte Franz, den Diener, mit Matthia, Ottos Pferdewärter, auf dem Gang sprechen. Ich sprang aus dem Bett, warf einen Schlafrock über und trat zu beiden auf den Gang hinaus. „Was war das?“ „Der Geschützmeister von der Artilleriekaserne ist über Nacht Hauptmann g'wordn! Er schießt auf die Artilleriekasern!“ Matthia fügte in seinem gebrochenen Deutsch hinzu: „In Kasern lauft sich alles davon. Krieg ist sich aus ...“ Franz unterbrach: „Wenn der Herr Rittmeister jetzt in die Kasern gangert, war er in einer halben Stund Major!“

„Wer sich nicht davon is, reißt sich Kokarde runter und steckt sich rote, rot-weiß-blaue und rot-weiß-grüne auf Mütze.“ „Und Ihr?“ „Matthia geht sich dorthin, wo der Herr Rittmeister geht!“ Franz sagte: „Heut' kehr ich noch. Aber morgen rühr‘ ich um tausend Kronen kan Besen mehr an!“

„Ach Franz“, sagte ich, „um tausend Kronen kehr ich selbst!“ „Der Herr Oberleutnant Lončarić is sich Rittmeister wordn über Nacht!“, klärte Matthia mich auf. „Ach sooo!“ Ich begriff. Otto zu wecken war schwer. Es war, als wolle er sich überhaupt nicht mehr wecken lassen. Erst als Leutnant Wimmer hereinstürzte und die Angaben der Dragoner bestätigte, sprang er aus dem Bett. In der Tat lief alles durcheinander. Ungarn und Triestiner waren schon in der Nacht desertiert. In der Artilleriekaserne hatte ein Feuerwerker den Befehl an sich gerissen und den Schuß, den ich gehört hatte, auf die Infanteriekaserne abgegeben. Daraufhin war der Oberst mit dem ganzen [Infanterie-] Regiment nach Leibnitz abmarschiert ... Es wurde wirklich ernst. In fünf Minuten waren die beiden Herren verschwunden.

 

Um neun Uhr kam Otto zurück. Der Oberst hatte die Deutschen und Slowenen getrennt antreten lassen und die Absicht geäußert, mit den Deutschen nach Leibnitz zu marschieren und die Slowenen nach Cilli zu schicken. Otto hatte sich geweigert. Erstens sei Marburg deutsch und nicht slowenisch, zweitens habe er Haus und Familie hier und denke nicht daran, sie zurückzulassen. Überhaupt gäbe es keinen Grund, das Feld einfach zu räumen.

 

Es wäre eine Frage, die der Stationskommandant zu lösen habe. Alle Offiziere hätten ihm recht gegeben, sagte er. Es werde jetzt gleich gemeinsam zum Stationskommando gefahren. Sie waren zu acht und fuhren in zwei Wagen zum Stationskommando, um mit dem Kommandanten, Oberst [Anton] Holik, die Lage zu besprechen.

 

Oberst Holik hatte schon seit sieben Uhr vergeblich versucht, das Oberste Heereskommando in Baden zu erreichen. Dort meldete sich niemand. Während seiner vergeblichen Bemühungen erschienen plötzlich zwei Herren, die sich als österreichische Stadthaltereibeamte, Doktor Leinschitz und Doktor Verstovscheg, vorstellten. https://sl.wikipedia.org/wiki/Karel_Verstovšek

 

Sie erklärten, sie hätten sich als jugoslawischer Nationalrat konstituiert und bäten den Herrn Oberst, ihnen das Stationskommando zu übergeben. „Was fällt Ihnen ein!“, schrie der Oberst, noch in den gestern gültigen Begriffen der Monarchie befangen.

Haben Sie denn nicht das Manifest Seiner Majestät gelesen?“

 

Ein Leutnant schlug naseweis vor, die beiden Herren einfach zu verhaften. Auch stünde am Bahnhof ein ganzes Regiment Deutschmeister. Die Ordnung wäre ohne Weiteres aufrechtzuerhalten. Die beiden frischgebackenen Nationalräte erhoben leidenschaftlichen Protest: ob die Herren nicht wüßten, daß die gestrige Verordnung des Kaisers die Nationalräte anerkenne? Sie wären Vertreter des neu gegründeten jugoslawischen Nationalstaats und daher unantastbar. Es stehe jedem frei, sich was immer für einen Nationalrat zu unterstellen.

 

Oberst Holik setzte sich zur Wehr: „Wir haben hier noch keinen Nationalrat. Uns ist nichts bekannt! Wir haben auch keinen wie immer gearteten Befehl.“ Die beiden Nationalräte riefen beschwörend: „Es ist doch alles im Vorhinein anerkannt. Der Kaiser selbst hat Ihnen befohlen, sich Ihrem Nationalrat zur Verfügung zu stellen! Und überhaupt: bedenken Sie doch! Die Armee ist in voller Auflösung. In Kroatien wütet der ‚Grüne Kader‘! Die Schlösser des Grafen Jellachich und des Barons Guttmann brennen. Das Ganze endet in einem Blutbad!"

 

Jetzt entschloß sich Oberst Holik, statt des unerreichbaren AOK in Baden das Korpskommando in Graz anzurufen. Er erhielt eine wahrhaft salomonische Entscheidung: „Nur Ranghöheren übergeben!“ Oberst Holik war erlöst: „Der Ranghöhere bin ich!“

Die zwei Nationalräte flüsterten einander etwas zu und baten die Offiziere, eine halbe Stunde auf sie zu warten, bis sie sich aus Laibach neue Instruktionen geholt haben würden.

Als sie nach einer halben Stunde wieder erschienen, waren sie zu dritt.

Der Dritte war der vor kurzem zum Major avancierte pensionierte Landwehrhauptmann Maister. Ihm hatte bisher das Monturendepot unterstanden. Er war als General verkleidet! „Aus welcher Mottenkiste hat er die Generalsuniform ausgegraben?“, lachte der freche Leutnant. Aber Oberst Holik sprang wütend auf und schrie: „Was soll das Theater?"

Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, entgegnete Doktor Leinschitz würdevoll: „Wir vertreten den neu gegründeten Staat des SHS (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen). In dieser Funktion haben wir den Herrn Major Maister zum General ernannt.

Der junge Leutnant, der beide Herren hatte verhaften wollen, brach in ein schallendes Gelächter aus. „Da gibt es nichts zu lachen!“, rief Doktor Verstovscheg erbost. „Der Herr General ist der Rangältere. Darf ich bitten, ihm das Stationskommando zu übergeben!“ Oberst Holik schwankte einen Augenblick. Er kämpfte mit sich. Dann stieß er den Stuhl zurück, schlug den Deckel über seine Akten, machte auf dem Absatz kehrt und verließ, von seinen Offizieren gefolgt, das Zimmer. Auch hier das Ende!...“

 

Die neue Regierung des SHS und das heutige Jugoslawien hatten allen Grund, ihn [Maister] als Helden zu feiern und ihm Denkmäler zu setzen. Er hatte die Stunde genützt und den Sprung gewagt. Den Kühnen und Entschlossenen gehört die Welt. Und er saß tagelang allein auf seinem Stuhl. Allerdings, er brauchte sich nicht zu fürchten. Niemand machte ihn ihm streitig.

 

Der 2. November war ein trostloser Tag. Alles Grau in Grau.

Als ich am Vormittag ausgehen wollte, stand Lončarić vor unserer Gartentür und stellte ein Maschinengewehr auf. „Was machen Sie denn da?“ „Eine Vorsichtsmaßregel. Die Armee an der Südfront ist am Rückfluten. Die Leute sind verhungert, die Stadtbevölkerung auch. Hinter Ihrem Garten liegt das Verpflegmagazin. Es kann passieren, daß es gestürmt wird.“ Hinter dem Haus fielen einige Schüsse.

„Hören Sie? Lassen Sie die Kinder heute nicht aus dem Haus. Und sagen Sie Otto, er möge sich um seine Pferde kümmern ... Wenn das so weitergeht, ist niemand mehr in der Kaserne seiner Habe sicher. Die anständigen Bauernsöhne gehen alle nach Hause. Hier wird nichts zurückbleiben als Gesindel, Heimkehrer und Abenteurer.“

„Ist noch Krieg?“, fragte ich. „Nicht einmal der Waffenstillstand ist noch abgeschlossen. Aber wer kann, flüchtet jetzt schon. Niemand will sich gerne fangen lassen. Schauen Sie, was da kommt ...“ In der Tat gingen da Soldaten, wie wir sie bei uns noch nie zu sehen bekommen hatten.

Soldaten aller Waffengattungen, zerfetzt und abgerissen, müde und zerschunden. Waffenlos die einen. Die anderen schleppten sie hinter sich her. Viele schlichen mehr, als sie gingen.

„Man wird für sie sorgen müssen!“, sagte Lončarić. Otto trat jetzt zu uns: „Ich gehe zum General. Hier muß Ordnung geschaffen werden. Man kann die Leute nicht verhungern lassen!“ Und fort war er. „Das dicke Ende kommt noch“, sagte Lončarić. „Ich höre, das AOK hat in gewohnter Kopflosigkeit die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen angeordnet. Die Ungarn sind aus ihren Stellungen herausgezogen worden. Jetzt wirft alles die Waffen weg und rennt ums nackte Leben. Die Katzelmacher werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, kampflos zu siegen.“

 

Er griff an die Mütze und wollte gehen. Blieb aber dann doch noch stehen und sagte: „Es ist ein Jammer, daß Otto sich nicht entschließen konnte mit mir zu gehen am vorigen Abend. Er wäre jetzt Oberst und Kaderkommandant. Die Leute gehen für ihn durchs Feuer. Vor ihm haben sie Respekt. Hätten wir lauter solche Leute gehabt, wären wir nicht so weit gekommen! Jeder Staat braucht solche Leute. Das hat nichts mit dem Nationalitätenprinzip zu tun.“

 

Nie hatte ich diesen Menschen so sprechen gehört. „Und Sie?“, fragte ich beinahe eingeschüchtert. „Mich betrachten die Leute als ihresgleichen. Mich respektieren sie nicht.“ „Was sollte er in Jugoslawien tun?“ „Das ist es ja. Er ist ein Deutscher.“ „Nein. Er ist kein Deutscher. Er ist Österreicher.“

„Das zu sein habe ich mir auch lange Zeit eingebildet. Wir Kroaten sind keine Serben, wir waren alle treue Österreicher. Aber es gibt kein Österreich mehr.“ „Doch“, sagte ich. „Es muß ein Österreich geben, so lange es Österreicher gibt.“ „Die Frage ist nur, ob es ein Österreich geben kann, wenn es sich aufgespaltet hat in seine Nationen.“

 

Wieder wollte er gehen und blieb doch stehen: „Wir Kroaten waren keine guten Ungarn, aber wir waren gute Österreicher! Schade ... Wissen Sie übrigens, daß Graf Tisza ermordet worden ist?“ „Was?“, fragte ich entsetzt. „Graf Károlyi ist Ministerpräsident. Dort ist jetzt alles rot!“ „Um Gottes willen! Wie wird das enden?“ „Schlecht!“, sagte er.

 

Gegen Mittag kam Otto. Er sagte, die Italiener hätten um 10 Uhr an der ganzen Front neuerlich die Kämpfe aufgenommen. Es sei ein allgemeines Rette-sich-wer-kann. „Seit vier Jahren laufen sie zum ersten Mal“, sagte Lončarić. „Viele kämpfen noch, leider! Es gibt noch Gefallene. Aber ganze Korps werden umzingelt, können sich nicht mehr wehren und ergeben sich. Und nicht nur Steirer und Kärntner, auch Tschechen, Polen und Kroaten ...“ „Schweinerei“, sagte Lončarić. Und dann zu Otto: „Komm mit mir und scher Dich um Deine Pferde. Wenn ich es tu, glauben die kommunistischen Heimkehrer, ich will mich bereichern.“

 

Trotz der Beteuerung, nicht mehr kehren zu vollen, hatte Franz wie alle Tage gekehrt. Und dann war er in die Kaserne gelaufen, hatte einen der beiden ukrainischen Schimmelhengste gesattelt und war, den zweiten als Handpferd, in den Weingarten von Freunden geritten, um die Pferde dort in Sicherheit zu bringen. Otto hatte ein paar Braune, die Bissingen gehörten, auch irgendwo untergebracht und ich war mit einer Rappstute, einem prachtvollen Tier, nach Rothwein gefahren.

 

Otto hatte von General Maister eine Legitimation erhalten, und zwar mit dem handgeschriebenen Titel Narodni svet za Stajersko (der nationale Rat für Steiermark), die ihn berechtigte, die Verpflegung der durchziehenden Truppen zu übernehmen.

Was jetzt durch die Stadt zog, waren wirklich kämpfende Truppen auf der Flucht. Sie drängte in die Kasernen, sie saßen gruppenweise in den Haustoren, bettelten um Brot, zerrissen, zerfetzt, verwahrlost, verhungert. Von Offizieren, die geachtet wurden und denen die Distinktionen abzureißen keinem ihrer Untergebenen eingefallen wäre.

 

Otto war jetzt nur noch auf der Bahn. Zug um Zug kam an oder fuhr vorüber. Die Menschen quollen aus den Fenstern, klammerten sich an die Waggonwände, an die Dächer, wurden in den Tunnels heruntergewischt und überfahren. Sie erzählten von wilder, ungeordneter Flucht, von Toten und Erschossenen, die sie hatten zurücklassen müssen. Von Waffen und Munition, die den Gegnern in die Hände gefallen waren. Maschinengewehre, Geschütze und ganze Trains. Die Italiener wären hinter ihnen her. Sie waren schon in Laibach. Sie würden auch herkommen ...

Verhungert und erschöpft zogen sie durch die Straßen und setzten sich auf die Stufen der Haustore, um gierig das zu essen, was man ihnen gab. Über unsere Köpfe flogen wie Totenvögel die Flugzeuge nach Aspern.

Es war aus …